11. Februar — 25. März 2023

joeressen+kessner: kontraste
Transmedia-Echtzeit-Installation für die Villa Hügel

Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner entwickeln seit 2001 gemeinsame, transmediale Kunstprojekte, meist als ortspezifische Interventionen. Seit Abschluss ihres Studiums der Freien Kunst u.a. in Münster 1985, arbeitet Eva-Marie Joeressen als freie Künstlerin. Objekte, Installationen und Kunst-am-Bau Projekte sind ihr künstlerischer Schwerpunkt. Klaus Kessner schloss sein Studium der Musik (u.a.) in Münster 1985 ab, seitdem ist er als Musiker und Komponist tätig. Seit 1992 sind audio-visuelle Systeme und performative Situationen sein künstlerischer Schwerpunkt.

Anlässlich des Jubiläums „150 Jahre Hügel“ hat die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung die Künstler_innen Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner aus Willich eingeladen, eine transmediale Kunstintervention für die Villa Hügel zu entwickeln. Vom 11. Februar bis zum 25. März 2023 – nach Einbruch der Dunkelheit – ist die Echtzeit-Installation „kontraste“ zu erleben.

joeressen+kessner. kontraste (Studioaufnahmen am Model). VILLA HUEGEL Essen 2023. Photo joeressen+kessnerjpg (2)
joeressen+kessner. kontraste (Studioaufnahmen am Model). VILLA HUEGEL Essen 2023. Photo joeressen+kessnerjpg (1)
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Momentaufnahmen am Modell: joeressen+kessner.

Rund um das Gebäude sind Projektoren und Klanganlagen aufgebaut. Sie sind mittels Computern, Kabel und Wlan-Strecken vernetzt und bilden die technische Infrastruktur für eine Doppelprojektion. Die eine ist für Nord-, die andere für die Südfassade der Villa Hügel ausgelegt. Für die Künstler_innen sind dies nicht zwei getrennte Oberflächen, sondern sie betrachten sie als eine Einfassung des gesamten Gebäudes. „Wir suchen stets nach einer unvoreingenommenen Lösung der Frage nach einer maximalen Wechselwirkung zwischen Gebäude und künstlerischer Intervention. Bei der Villa Hügel war uns schnell klar, dass eine bloße „Bespielung“ der Nordfassade weder der Architektur noch der beschriebenen komplexen Historie gerecht werden würde. Erst durch die Einbeziehung von Vorder- und Rückseite ergibt sich eine sinnvolle Grundlage für die Entwicklung einer Inszenierung, welche die Gesamtheit des Gebäudes in vielfältigsten Aspekten erschließen soll.“1Alle Zitate: Interviews mit Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner von Januar 2022 bis Januar 2023. Text: Bettina Pelz mit Unterstützung von Gamze Can, erklärten sie in der Vorbereitung.

Im Dezember 2021 gab es ein erstes Treffen für das Projekt in Essen. Es folgten viele Besuche, Gespräche und Tests. Als transdisziplinäres Tandem sind die Künstler_innen erfahren, sowohl mit Kunst am Bau, Kunst im öffentlichen Raum und mit zeitgenössischer Kunst im Dialog mit Kulturerbe-Stätten. Im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit realisierten sie u. a. Projekte am Rathaus in Halifax (Kanada 2018), für das Museum für Stadtgeschichte in Tunis (Tunesien 2016), für den Dom in Hildesheim (2015), das Sanaa-Gebäude auf der Zeche Zollverein (Essen 2010) oder für die St. Catharinakerk in Eindhoven (Niederlande 2008). Seit über 20 Jahren arbeiten Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner zusammen, „… Ortsbezogenheit und stringente Verbindung von bewegtem Bild und bewegtem Klang sind von Anfang an unsere Maximen. An diesen Positionen hat sich seitdem nichts geändert.“

Im Laufe des letzten Jahres sammelten sie Aufzeichnungen, Bild- und Tonaufnahmen, Pläne und Zeichnungen, fast jede Art von bildlichen oder akustischen Informationen zur Villa Hügel, ihrer Bewohner_innen, und der facettenreichen Geschichte. Die umfangreiche Sammlung sortierten sie, und immer mal wieder änderten sie die Such- und Ordnungsabsichten, bis sich — im Experiment und im Gespräch — die konzeptionelle Linie entwickelte. Erst dann wählten sie die Datenmaterialien aus, die visuell oder auditiv weiter verarbeitet werden. „Die Mittel unserer Bild- und Klangsprache sind explizit nicht konkret, sondern abstrakt. Es kann/darf auch nicht um konkrete Ereignisse, Personen mit ihren Verwicklungen, Entwicklungen, Widersprüchen gehen, sondern, falls unsere Inszenierung gelungen ist, dann fordert sie beim Besucher eigene Standpunkte und Sichtweisen auf und über das Gebäude ein, fordert, sich den Kontrasten zu stellen und vielleicht sogar aufzulösen.“

Zu dem Rohstoff der Installation „kontraste“ gehören auch neue Audioaufnahmen. Über die verschiedenen Generationen hinweg haben sie 18 Namen von Hausbewohner_innen ausgewählt. Übersetzt in digitale Daten und elektronische Audiosignale, wurden diese vor Ort eingespielt: „Dazu haben wir die Namen aller Mitglieder der Familie Krupp, die von 1873 bis 1945 in der Villa lebten, in all ihren Bestandteilen (Vor-, Mittel-, Nach-, Geburtsnamen) in eine Datenbank eingegeben und einen Algorithmus geschrieben, der nach von uns erstellten Gewichtungen, Namens(teile) auswählt und vielschichtig in einem Chor von verschiedensten individuellen Computerstimmen abspielt. Diesen Algorithmus haben wir vor Ort in fast 20 unterschiedlichen Räumen (vom Kaiserbad über die große Halle bis zum Belvedere) abgespielt und aufgezeichnet. Die Ergebnisse dieser Aufnahmen bilden einen Teil der Grundlage des Klangmaterials …“, beschreiben sie das Making-of.

Diese akustischen Eindrücke werden jedoch nicht zu vorgefertigten Klangsequenzen, sondern sie werden zu Bausteinen, die in einem digitalen, wenn/dann-System verarbeitet werden. Das Bild- und Klangeschehen wird nicht vorab entwickelt, aufgezeichnet und bearbeitet, sondern das Rendering und die Aufführung finden zu gleicher Zeit statt. „Echtzeit bedeutet, dass all die digitalen Signale, die für die Projektion von Bild und Klang benötigt werden, in dem Augenblick gerechnet, errechnet werden, indem sie zu sehen und zu hören sind. Es werden keine vorgefertigten Bild- oder Klang-Sequenzen verwendet.“, beschreiben sie ihre Arbeitsweise.

Für das performative Datengeschehen haben sie die Fassaden in verschiedene Abschnitte, so genannte „frames“, aufgeteilt. In der Entwicklung werden diese in Koordinatensysteme unterteilt, die sich an der Architektur des Hauses und seiner unmittelbaren Umgebung wie auch an den Geometrien des Projektionslichts und den Wegenetzen des Klangs orientieren. Im Experiment mit dem axiomatischen Rahmen und dem Datenmaterial entwickeln joeressen+kessner diachrone Tandems aus Bild und Klang. Sie definieren audiovisuelle Wechselbeziehungen sowohl als einzelne unabhängige Module wie auch in Korrelationen, organisiert in einem dezentralen Netzwerk.

Ihre Arbeitsweise beruht auf mathematischen Prinzipien, auf Wahrscheinlichkeiten und stochastischen Verteilungen, Mengenlehre und Datenwachstum. Vernetzungen oder Links, Schnittstellen oder Nodes, Komplexität und Unüberschaubarkeit sind ihre Arbeitsumgebung. „Stochastisches Komponieren“ nannte der Architekt und Komponist Iannis Xenakis diese Art künstlerischen Arbeitens. Mit Blick auf performative audiovisuelle Systeme, die auf komplexen Interaktionen basieren, fasst der Musiker und Musiktheoretiker Alberto de Campo die Entwicklungen im 21. Jahrhundert zusammen mit „ … aus „command and control“ wurden „network of influences“.

Unsichtbar für die Zuschauer_innen, wird das Bild- und Tongeschehen von einem Datensystem gesteuert, das joeressen+kessner für diese ortsspezifische Architekturprojektion angelegt haben. Sie arbeiten mit Software wie openFrameWorks für kreatives Codieren und SuperCollider für Algorithmen-basierte Kompositionen: „Dies sind beide Open Source Programmierumgebungen, die maximalen Eingriffs- und Veränderungsmöglichkeiten bieten. Mit diesen Hilfsmitteln wird Computercode erzeugt, ein eigenes Programm erstellt, welches alle benötigten Signale berechnet und alle Abläufe der Installation in der Zeit steuert.“, erzählten joeressen+kessner in ihrem Studio.

„… in diesem Wohnhaus für die Zukunft finden sich viele Kontraste: z. B. eine eher rückwärtsgewandte Architektur verbindet sich mit modernster (nach dem Stand der Zeit) Kommunikations- und Haustechnik.“ beginnen sie, wenn sie erläutern, wie sie ihr Konzept entwickelt haben. Sie betrachten „… die Villa Hügel als Ort, (und) die Personen, die mit diesem Ort verbunden sind, die Entwicklungen, die hier ihren Ursprung hatten, all dies bildet ein immenses Bündel an Kontrasten. All diese Schichten, Geschichten, Verwerfungen und Gegensätze stellen ein komplexes Gefüge an Licht und Schatten dar, wie wir es noch an keinem anderen Ort erlebt haben.“ Diese Spannungsfelder bilden den konzeptionellen Rahmen der Installation „kontraste“.

Übertragen auf die Farbgestaltung bedeutet dies, dass der höchste Kontrast von Schwarz und Weiß sowie von Licht und Schatten ein wesentliches Element in der Gestaltung darstellt: „Unter dem Leitmotiv eines Durchleuchtens konzentriert sich die Arbeit auf die ausschließliche Verwendung von weißem Licht …“, erläutern joeressen+kessner ihr Vorgehen. In der Projektion des weißen Lichts scheint das Baumaterial auf, im Lichtschatten verschwindet es. joeressen+kessner komponieren das Zusammenspiel von gebauter Form und wie sie das Licht ablenkt, beugt und bricht. Sie stellen den Linienführungen der Architektur denen der digital animierten Grafik gegenüber. In dem vielseitigen Wechselspiel thematisieren sich Veränderlichkeit, Zeitfluss, Medialität als einen immerwährenden Prozess von Übergängen. Sie stellen der Idee eines dauerhaften und stabilen Bildes das eines flüchtigen und veränderlichen gegenüber. Ihre Arbeiten gewähren Einblick in die Art und Weise künstlerischen Forschens und sie teilen mit den Besucher_innen, den Moment der Beobachtung.

Die Künstler_innen zeichnen sich durch eine prinzipielle Offenheit aus, „gegenüber Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen …, an Dingen, die uns begeistern und unsere eigene Tätigkeit auslösen: seien es eine Cello Suite von Johann Sebastian Bach, ein Buch von Douglas Adams, die „curtain wall“ des Bauhaus, ein Gemälde von Caravaggio oder das Spiel von Licht und Schatten in einem Wald.“ Mit den Worten des Medientheoretikers Siegfried Zielinski lässt sich ihre Arbeitsweise als „Kartografie des technischen Visionierens, Lauschens und … Kombinierens“ beschreiben. „Wir entwickeln spontane Ideen durch vielfältige Auseinandersetzungen mit dem Ort. Die tragfähigsten Ergebnisse werden ausgewählt, verfeinert, getestet, verworfen, ausgewählt. Es ist ein kontinuierlicher Prozess der Entwicklung, die Evolution eines Bild-Klang-Organismus, die erst mit dem Abschalten der Installation im März des kommenden Jahres beendet sein wird.“

LINKS

150 JAHRE HÜGEL: Der Hügel wird Licht

joeressen+kessner
vimeo.com

RESPONSIVE Halifax 2017
SEE DJERBA Houmt Souk 2017
INTERFERENCE Tunis 2016
RUHR2010 Essen 2010
GLOW Eindhoven 2009

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